11 Nov, 2013
Achtsamkeit im Umgang mit Material
„Solide ist das neue Cool“ habe ich gerade in der Zeitschrift „Enorm“ zu Protokoll gegeben und einer Ästhetik der Reduktion das Wort geredet, wie sie etwa die japanische Kultur hervor gebracht hat oder der Existentialismus, der nicht nur Kellerkneipen zu begehrten Etablissements machte, sondern auch simple schwarze Pullover zum angesagten Look.
Und dann das. Über Stunden habe ich mich vom genauen Gegenteil fesseln lassen. Vom Überladenen. Von buntem Patchwork-Look, von verspielten Kleidern und aufwändigem Schmuck – von einem Lavastrom kreativer Objekte. Denn etliches von dem, was die in New York lebende Aktivistin, Autorin und Bloggerin Sass Brown in ihrem neuesten Buch „Refashioned“ auf 208 Seiten versammelt, ist das Gegenmodell zum simple chic, den ich in Zeiten knapper Ressourcen im Kopf habe.
Und trotzdem bewegt uns dasselbe. Die unglaubliche Schnelligkeit der Mode, dass ein Modell das nächste jagt und am Ende ein Haufen Müll bleibt. In Europa werden jährlich 50 Millionen Tonnen Textilien weggeworfen – 75 Prozent landen auf der Müll-Deponie, nur 25 Prozent werden recycelt.
Sass Brown kontert den Trend zu Kleidung als Wegwerfartikel und setzt ihm eine eindrucksvolle Werkschau von 46 internationalen Designern entgegen, die Upcycling-Mode fertigen. 28 der Designer arbeiten mit gebrauchten Materialien, 18 mit Material, was übrig blieb und nie getragen wurde. Kongenial wechselt sie dabei ab zwischen Kleidung und Schmuck – so wird diese Hommage ans Wiederverwerten auch optisch nie eintönig.
In ihrem liebevollen Vorwort schreibt Natalie Chanin, Gründerin des Labels Alabama Chanin, Upycling sei eigentlicher ein alter Hut. Geboren aus Notwendigkeit hätte schon ihre Großmutter aus ausgemusterten Sonntagskleidern oder alten Getreidesäcken Quilts genäht – es sei eigentlich diese pragmatische und praktische Art, die das Buch propagiere. Stimmt, nur so alltagstauglich wie die Überdecken von einst, ist manches nicht. Das Wort „tragbar“ bemüht Sass Brown für meinen Geschmack allzu oft – für die futuristischen Korsetts der britischen Designerin Rachel Freire (siehe oben) gilt das genauso wenig wie für den verrückten Puppenhaus-Look von Lu Flux (auch aus excentric Britain).
Beeindruckt hat mich die dreijährige Recherche von Sass Brown für das Buch, die sich ausgezahlt hat – neben vielen Bekannten wie „km/a“ oder „MILCH“ und „Steinwidder“ (alle aus Österreich), gibt es für mich spannendes Neues wie „Reet Aus“ aus Estland oder das Schmucklabel „Otra“ (On the Road Again) aus Kanada. London und Berlin als Heimat vieler Upcycling-Labels wird ausführlichst gehuldigt, natürlich fehlt immer etwas wie Daniel Kroh (ReClothings) oder Globe Hope oder Aluc, die alle im Upcycling-Store in Berlin zu sehen sind. Und mir fehlen – Schuhe! Katha Harrer und Michael Ellinger vom Label km/a beispielsweise produzieren wunderbare Stiefel, deren Obermaterial aus den Gefängnis-Decken ist, aus denen auch ihre Mäntel sind. Ich habe sie auf der „Blickfang“ in Hamburg gekauft und sie tragen mich sicher durch dunkle und stürmische Tage.
Natürlich sind viele Entwürfe hochwertige Einzelteile, nur selten schaffen es Designer mit ähnlich aussehenden Stücken in Großserie zu gehen wie etwa Cloed Baumgartner vom Wiener Label Milch mit ihren Damenkleidern aus Herren-Hosen (Motto: „Wir haben jeden Tag die Hosen an!“).
Und was steckt hinter dem Buch, was blitzt hinter dem Panoptikum an kreativen Ideen? Es ist ein deutliches Plädoyer für einen achtsameren Umgang mit Material, egal ob die Designer Kuhzitzen, Getreidesäcke, Fallschirmseide oder Denim verwenden. Ich bin Optimistin: Wenn die Gegenbewegung so sichtbar wird, dann hat die Fast-Fashion-Ära vielleicht wirklich bald ihren Zenit überschritten.
Kirsten Brodde, Blog-Gründerin und Autorin von "Saubere Sachen", hat das Thema Ökomode quasi aus dem Nichts entwickelt. Sie arbeitet als Greenpeace Detox-Campaignerin bei Greenpeace Deutschland. Hier finden Sie alle Artikel von Kirsten . |
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